Samstag, 1. September 2012

Wo die Schildkröten wohnen Tag 4


Der nächste Tag brachte seine eigene neue Unerfreulichkeit mit sich: Ameisen. Hunderte Ameisen im Zimmer. Erst dachten wir, unsere heimlich im Bad Kekse essenden Mitbewohnerinnen hätten gekrümelt und die Viecher damit angelockt, also habe ich erstmal eine Runde den Boden gewishct, allerdings fanden wir bei genauerem Hinsehen heraus, dass sie ausschließlich auf der Vorderseite vom Rucksack meines Besuchs herumkrabbelten. Der wiederum hatte gerade Schicht im Brutzentrum und musste eimerweise Wasser vom Meer hinauf tragen, um sie über eine kranke Schildkröte (mein besuch nannte sie Seasick Stevie) zu kippen, die dort vor sich hin döste, also habe ich alles ausgepackt (nichts Essbares im Rucksack; wir vermuten, irgendwer hat mal irgendwann etwas darüber ausgekippt) und den Rucksack unter die Dusche gehängt und mit Seife ausgewaschen. Hoffen wir, dass das reicht.

Dann ging es endlich zum Frühstück und offenbar sind meine Beine mittlerweile so viel mehr zerstochen als zuvor (und als die aller anderen), dass mich niemand mit „Guten Morgen“ begrüßt hat, sondern mit „Was ist denn mit deinen Beinen passiert?“ Danach wurde ich von allen Seiten mit Anti-Juckreiz-Salbe und dem costaricanischen Antimückenzeug überhäuft (im Gegensatz zu dem deutschen, das dem tropischen Viechzeug kein bisschen gewachsen ist, hilft das wirklich), sodass es sich hoffentlich bald bessert. Ich habe ein Foto davon, aber mir wurde geraten, es nicht hochzuladen, weil es so gruselig aussieht.
An diesem Punkt dachte ich, ich hätte den Tiefpunkt des Tages hinter mir, aber dann ging ich zum Arbeitseinsatz für 10 Uhr (in der Hoffnung, zurückgehen zu dürfen, weil einfach alles erledigt ist: Haus geputzt, Strand gesäubert, Garten in Ordnung), aber nein, heute haben wir eine neue Aufgabe bekommen: Steine sammeln. Wir haben zwei große Plastiksäcke bekommen und den Auftrag, in der Gegend kinderfaustgroße Steine zu sammeln, um damit Kräuterbeete im Garten abzugrenzen und es fühlte sich ein bisschen an wie ein Straflager.

Aber wie das hier immer so ist, während wir gerade darüber nachdachten, zu meutern und in ein Gästehaus um die Ecke einzuziehen und einfach den Strand und das Wetter zu genießen, kam die Meldung aus dem Brutzentrum: der erste Kopf ist zu sehen! In dem Nest, in dem letzte Nacht die Erde immer mehr eingesackt ist, aber in dem während unserer Schicht nichts passiert ist, zeigte sich heute ein erstes kleines Schildkrötenpatschflösschen, nur ganz langsam, weil es Tag ist und warm und die Sonne scheint und die Kleinen das nicht mögen, aber sie kommen tatsächlich heraus und das heißt, wir werden tatsächlich bald Schildkrötenbabys sehen (was hier ungefähr so schön ist wie Weihnachten).
Tatsächlich gezeigt haben sich dann aber nicht die Schildkrötebabies aus diesem Nest, stattdessen sind aus einem Nest, das eigentlich vor zwei Tagen geschlüpft ist, noch zwei kleine Nachzügler gekrochen. Die haben wir dann im Sonnenuntergang alle zusammen zum Strand gebracht und dann krochen sie langsam und so mühsam, dass man sie am liebsten nehmen und einfach bis direkt zum Meer tragen wollte, vor sich hin, während über ihnen schon die Geier kreisten.


Aber sie haben es geschafft: während um uns herum ein tropischer Regenguss niederging, wurden sie einzeln von einer Welle ergriffen und in den Ozean gespült (und man kann sich gar nicht vorstellen, dass so ein armes kleines Lebewesen nachts in diesem riesigen Ozean zurechtfindet).

Und dann regnete es. Und regnete.
Dann fiel der Strom aus.
Und blieb aus.
Also haben wir mit Kopfleuchten und Taschenlampen Abendbrot gegessen und saßen dann erstmal im Haus im Dunkeln fest, während um uns herum die Welt unterging.

Das Gute daran war, dass meine Nachtpatrouille abgesagt wurde, sodas ich zum ersten Mal die Nacht komplett durchschlafen konnte. Um das zu erfahren, musste ich zwar nochmal im strömenden Regen zurückrennen (und die Töpfe abwaschen), aber dafür konnte ich dann theoretisch durchschlafen (eine Zimmergenossin kam um zwölf wieder und mein Besuch musste um vier los zur Schicht, sodass man trotzdem immer mal wach wird, aber im Vergleich zu Nachtpatrouille oder Wachschicht ist das praktisch durchschlafen).